Der Herr schuf mich, seines Waltens Erstling, als Anfang seiner Werke, vorlängst.
Von Ewigkeit her bin ich gebildet, von Anbeginn, vor dem Ursprung der Welt ...
Als er den Himmel baute, war ich dabei, als er das Gewölbe absteckte über der Urflut,
als er die Wolken droben befestigte und die Quellen der Urflut stark machte,
als er dem Meer seine Schranke setzte, dass die Wasser seinem Befehle gehorchten ...
da war ich als Liebling ihm zur Seite war lauter Entzücken Tag für Tag und spielte vor ihm allezeit,spielte auf seinem Erdenrund und hatte mein Ergötzen an den Menschenkindern
So hört denn auf mich meine Kinder ... Wohl den Menschen, die meine Wege einhalten,
an meinen Toren wachen Tag für Tag, und meine Türpfosten hüten.
Denn wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen beim Herrn. Wer mich aber verfehlt, der
schädigt sich selber. Alle die mich hassen, lieben den Tod. (Sprüche 8, 22-36)
Christus, in dem alle Schätze der Weisheit und des Wissen verborgen sind. (Kolosser 2,3)
In der Bibel finden sich mehrere Berichte über die Erschaffung der Welt. Am vertrautesten ist uns natürlich das erste Kapitel der Bibel, jener majestätische Bericht über die Erschaffung der Welt in sieben Tagen. Gott spricht – und Licht, Wasser, Erde, Pflanzen, Tiere und die Menschen werden lebendig. Das Buch der Sprüche gibt uns ein anderes Bild. Hier liegt das Gewicht auf der Weisheit von Gottes Schöpfung. Die Weisheit tritt als Person auf – sie wird dargestellt als Frau oder eher als Mädchen, das vor Gott tanzt. Sie wurde vor allem andern erschaffen. Sie war in jedem Augenblick der Schöpfung dabei. Die Weisheit, die Sophia, war an Gottes Seite als er das Universum schuf.
Sie tanzt and ergötzt sich an der Welt und ihren Bewohnern.
Das Bild ist anziehend. Es ist aber zugleich eine Herausforderung damit verbunden. Für uns Menschen kommt alles darauf an, dass wir die Weisheit erkennen, die Gott in die Welt eingepflanzt hat. Das Bild der Sophia, die vor Gott tanzt, führt zu einer Aufforderung: "Und nun, meine Kinder, hört auf mich; wohl denen, die meine Wege einhalten." Auf die Weisheit hören ist eine Angelegenheit von Leben und Tod.
Achten wir auf den abschliessenden Satz: "Wer mich findet, findet Leben; wer mich hasst, liebt den Tod." Der Satz ist von fast unheimlicher Aktualität. Denn ist nicht offensichtlich, dass Gottes weise Ordnung heute mit Füssen getreten wird? Die Weisheit tanzt vor Gott, wir aber schliessen uns diesem Tanz nicht an, sondern folgen dem Takt unseres eigenen Willens. Die Weisheit fordert uns auf, "an ihren Toren zu wachen Tag für Tag". Wir aber haben anderes im Sinn; statt die Harmonie mit Gottes Ordnung zu suchen, richten wir uns Leben nach eigenen Plänen ein.
In den vergangenen Jahrzehnten hat eine eigentliche Explosion des Wissens stattgefunden. In fast allen Bereichen hat die Menschheit neue Kenntnisse erworben. Vieles von dem was früher als undurchdringliches Geheimnis galt, hat sich gelüftet und ist menschlichem Zugriff zugänglich geworden. Bedeutet das aber, dass der Mensch weiser geworden wäre? Wissen und Weisheit sind nicht dasselbe. Sie gehen nicht notwendig Hand in Hand. Wissen öffnet den Zugang zu neuen Kenntnissen. Weisheit aber ist die Fähigkeit mit diesen Kenntnissen umzugehen. Wissen allein ist noch kein Gewinn. Wissen ohne Weisheit führt zum Tod.
Dieser Widerspruch ist heute allgegenwärtig. Wir wissen, dass die Atomenergie mit unberechenbaren Risiken verbunden ist, machen aber weiter davon Gebrauch. Wir wissen, dass die Mobilität die Luft verpestet und zur Erwärmung der Atmosphäre beiträgt, lassen uns aber in unserem motorisierten Lebensstil nicht beirren. Wir wissen, dass der Konsum der Industrienationen die Ressourcen des Planeten plündert und übermässige Berge von Abfall schafft, erwarten aber weiterhin das Heil von immer grösserem wirtschaftlichem Wachstum. Wir wissen, dass nicht nur New Orleans, sondern zahlreiche Städte in der Nähe des Ozeans gefährdet sind, verschliessen aber unsere Augen vor der Gefahr. Warum? Warum hat die Stimme der Weisheit keine Chance? Ohne Zweifel darum, weil sich das Wissen mit dem Profit verbunden hat. Wenn der Profit in Frage steht, muss die Stimme der Weisheit verhallen.
Paulus sagt im Kolosserbief von Christus: "in ihm sind alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis verborgen." Paulus spricht hier von Weisheit und Erkenntnis in ein und demselben Atemzug. Es ist offensichtlich seine tiefe àœberzeugung, dass alle Weisheit, die für den verantwortlichen Umgang mit Erkenntnis nötig ist, in der Nachfolge Christi zu finden ist. Sie eröffnet neue Horizonte und stellt alternative Kriterien auf. Lassen Sie mich drei Aspekte nennen.
In der Nachfolge Christi werden wir zum Lobe Gottes eingeladen. Gott als Quelle alles Lebens preisen ist die absolute Priorität auf dem Weg zur Weisheit.
Ein zweiter Aspekt ist der Umgang mit den Gütern dieser Welt. Jesus lacht über die Menschen, die keinen andern Lebenszweck als die Anhäufung von Gütern haben. Er nennt sie Toren. Der Gedanke eines ständigen wirtschaftlichen Wachstums steht in klarem Widerspruch zu Jesu Botschaft.
Und der dritte Aspekt ist die Gemeinschaft - das Zusammenleben in gegenseitigem Respekt and in Solidarität. Es gibt keine höhere Priorität in der Nachfolge Jesu als der Aufbau einer solidarischen Gemeinschaft. Die Güter der Welt sind uns gegeben worden, damit sie allen zu Gute kommen.
Drei Schritte auf dem Wege zur Weisheit. Letztlich lassen sie sich zusammenfassen in dem Doppelgebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten. Dieses Gebot ist der Schlüssel zu Weisheit und Leben.
In der orthodoxen Tradition des Ostens spielt die Weisheit eine grössere Rolle als im Westen. Die Heilige Weisheit, die Hagia Sophia, wird von den orthodoxen Christen verehrt. Wir kennen die Kirchen oder haben von ihnen gehört, die im Osten der Heiligen Weisheit geweiht sind. Die schönste von ihnen steht in Istanbul. Sie wird nicht mehr als Kirche benützt, sondern ist ein Museum geworden. Seltsam! Weisheit als Museum! Aber so wichtig das Geb?ude ist, ist es doch nicht entscheidend. Wir sind Gottes Tempel. Wir sind die lebendigen Steine von Gottes Wohnsitz auf Erden. Weisheit muss in unseren Herzen einkehren. Und darum kann jeder Ort auf Erden in eine Hagia Sophia verwandelt werden und Gottes Weisheit in dieser Welt widerspiegeln.
Lukas Vischer